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Leidensdruck, Unfreeze, Change und Refreeze. Das erste Corona-Semester im dualen Studium Betriebswirtschaft

06. Juli 2020
* Liebe Leserinnen und Leser, selbstverständlich(!) werden mit meinem Text alle(!) Geschlechter gleichberechtigt angesprochen. Wenn ich hier schreibe, wie ich schreibe, dann lediglich im Interesse der Sprachkomposition. Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis und hoffe sehr, dass Ihnen der Text Freude macht.

Das vergangene Semester war eines der besten, die ich begleiten durfte. Weder war es unpersönlich, noch haben unsere Studenten* weniger gelernt oder gar die Dozenten versagt. Ganz im Gegenteil. Selten in den vergangenen Jahren war so viel Einfallsreichtum, so viel Engagement, so viel Durchhaltewille. Ich möchte nachstehend kurz einen Eindruck vermitteln, ein Schlaglicht werfen: Für unsere Studenten selbst, für unsere Partner in den Unternehmen, und auch für Studieninteressenten, die sich vielleicht fragen, was ist, wenn in der zweiten Jahreshälfte noch immer „ferngelehrt“ werden muss.

Drei und einen halben Monat ist es her, dass unser Land in die pandemische Notlage geraten und in die physische Distanz gezwungen wurde. Statt vier Wochen Sonderurlaub – wie manche befürchteten – gab es ab Mitte März Monate voller Sonderschichten, die in keiner Zeiterfassung auftauchen werden. Studenten mussten sich nicht lediglich mit neuen Lehrinhalten vertraut machen, sondern auch mit einer ganz anderen Art des Studierens. Häufiger ging mir durch den Kopf, dass ich das gar nicht einmal so schlimm fand. Manches hat an die vergangene, weniger verschulte und mit Präsenzpflichten erzwungene Zeit des Studiums erinnert. In einer Zeit ohne Mobiltelefone, mit weniger und anderem Internet – damit auch ohne eBooks und dergleichen – und ohne standby-Kontakt zu allen möglichen Menschen, die ohne Unterlass Ihre persönlichen Befindlichkeiten „teilen“ müssen. Eine kontemplative Welt des Studiums. Insofern: Ja, es gab räumliche Trennung. War jemand sich selbst überlassen, allein(gelassen)? I wo. Niemals! Ok, Zoomer?

Der Wissenschaftsrat selbst konstatiert 2010, dass „Das Studium als soziale Praxis ... mehr und anderes [ist] als die Summe der vermittelten Wissensbestände und Qualifikationen.“ (Wissenschaftsrat (Hrsg.) 2010: Empfehlungen zur Differenzierung der Hochschulen, S. 88 f.) Wie gut passt dieser Satz zur Idee des dualen Studiums, dessen Grundprinzip darin besteht, zwei Formen der Erkenntnis systematisch verzahnt miteinander zu verbinden: Erkenntnis auf dem Wege der Erfahrung (und das ist ebenfalls mehr und anderes, als lange Jahre in einer Berufspraxis) und Erkenntnis auf dem Wege des Nachdenkens. Gerade für angehende Manager war die Corona-Zeit auch im „Theorieteil“ ihres dualen Studiums überaus lehrreich. Management ist lediglich ein Kanon aus Planung, Organisation, Durchführung und Kontrolle. Und was musste geplant, organisiert, durchgeführt und im Anschluss geprüft (kontrolliert) werden. Natürlich waren die Transaktionskosten ganz wesentlich höher, als in Situationen, in denen ein Student einen Lehrraum aufsucht, sich hinsetzt und wartet, was passiert und fragen kann, ob das jetzt prüfungsrelevant war bzw. ein provokantes „Versteh’ch nich‘“ in den Raum stellen kann. Natürlich war es anstrengend. Aber was unsere Studenten nach kurzer Anlaufzeit an Organisationsleistung, an Abstimmung (Planung) untereinander und von Veranstaltungsterminen, im Nachhinein usw. leisten mussten und geleistet haben, mitunter, ganz wörtlich, mit ihren kleinen Kindern auf dem Schoß … ich bin ganz sicher, dass dieses Semester KEIN verlorenes Semester ist. Svenja Hofert fragt in einem Artikel in ihrem gleichnamigen Blog danach, welchen Sinn ein Studium überhaupt hat und schreibt schon 2015 sehr persönlich:

„Mit Bologna hat das Studium seine Funktion als Persönlichkeitsentwicklungsstation verloren. Früher studierte man lang und breit, weil es einen interessierte. So kam ich nach einer Pause auf 13 Semester. Damit gehörte ich sogar noch zur schnelleren Fraktion. Warum? Es ging uns nicht um einen Abschluss, es ging uns um einen Lebensabschnitt. Ich habe alles selbst herausgefunden, das Lernen 100% selbst gestaltet … es gab überhaupt gar keine Anleitung. Einen Großteil meiner Kompetenzen habe ich außerdem vermutlich auf Parties erworben. Insgesamt habe ich viele Gegensätze gesehen, vor allem aber gelernt, zu verstehen, welche unterschiedlichen Motivationen und Werte Menschen antreibt“.

Insofern war im Corona-Semester-Studium alles in Ordnung. Unsere Studenten haben Dozenten erlebt, die – am holprigen Anfang – 3stündige Vorlesungen als Telefonkonferenz hielten. Andere waren gar nicht zu sehen und zu hören, haben aber plötzlich ihre fossilen Lehrunterlagen intensiv überarbeitet. Zu Beginn haben Studenten alles hingenommen, später den Sinn der Redensart „Jeder ist seines Glückes Schmied“ begriffen, den Mut und Wege gefunden, das Gespräch mit den Dozenten zu suchen. So kamen Konstellationen zustande, in denen auch eine Einrichtung ohne Mittelbau dennoch etwas in der Art hatte – nämlich wenig technikaffine Dozenten in ihren Siebzigern, denen eine medienerfahrene Internet-Native während der gestreamten Veranstaltung assistierte – auch in kleinen Lehrräumen konnten so gut 1,50 Abstand bei geringer Aerosoldichte realisiert werden. Auch ich habe meine Rolle nicht von Beginn an erkannt. Doch nun habe ich einen Modus, wöchentlich mit den Studenten der gerade anwesenden Kurse zu sprechen, fakultativ natürlich, um zu klären, was läuft, was besser werden kann und, um ggf. noch zwischen Dozenten und Kursen vermitteln zu können. Dozenten und Kurse, hier entstand und entsteht etwas, das schon fast verloren war – eine Gemeinschaft von Menschen, die auf Augenhöhe an und mit Themen arbeiten, auch auf Distanz. Ich hoffe sehr, dass wir das in die Nach-Corona-Zeit hinüberretten werden. Ich jedenfalls arbeite daran! Um etwas zu ändern, dass wissen wir aus der Reorganisationsforschung seit Jahrzehnten, muss der Leidensdruck hinreichend groß sein, zudem benötigt man sog. Macht- und Fachpromotoren (in der Praxis spricht man mitunter von „Sponsoren“), man muss verkrustete Strukturen aufbrechen (das hat Corona erzwungen), dann wird Veränderung möglich, die dann überlegt und realisiert werden muss und dann folgt erneut die Institutionalisierung, die Verfestigung des Neuen. Letzteres ist die vor uns liegende Aufgabe. Niemand möchte auf Dauer auf Distanz lehren. Aber einige Erfahrungen der Distanzlehre sind wertvoll und sollten bewahrt und gepflegt werden, eben, weil Studium mehr und anderes ist, als reine Wissensvermittlung. Und das auch auf dem Wege der Distanzlehre echte Ergebnisse, sogar in Gruppenarbeit, entstehen, zeigt beispielhaft unsere Veranstaltung zum Handelsmarketing, in der Birgit Olschewski, ehedem langjährige Führungskraft im Dresdner Karstadt-Haus und nun seit einigen Jahren Dozentin in unserem Studiengang sowie Promovendin an der TU Chemnitz mit unserer jüngsten Matrikel in „Zeiten von Corona“ schon einmal potentielle Geschäftsideen hinsichtlich der Branche, griffigem Namen, Analyse eines Standortes jenseits virtueller Realitäten, der Sortimentsgestaltung, Ladenlayout, Raumaufteilung, Raumanordnung, Warenplatzierung, Raumzuteilung, Zuordnung von Warengruppen und der Gestaltung des Geschäftsumfeldes besprochen hat. Die Ergebnisse sind im nebenstehenden Bildmaterial zu sehen. Und das ist nur ein Beispiel!

Lehrreich war sie also, die verstrichene Zeit mit dem apokalyptischen Reiter im Nacken. Und sie ist es noch. „Not macht erfinderisch.“ – was lehrt uns das über Veränderungsprozesse, über Innovation? Oder „Ohne Fleiß, kein Preis.“ …

Bleiben Sie gesund …!

 

Autor: Prof. Dr. Thomas Graßmann (Studiengangleiter Betriebswirtschaft)

 

Handelsmarketing: Seminar-Gruppenarbeiten zu potentiellen Geschäftsideen
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